1.2. Wiederholung: Gewöhnliche Differentialgleichungen

In diesem Abschnitt werden wir kurz die wichtigsten Definitionen und Ergebnisse zu gewöhnlichen Differentialgleichungen aus Kapitel 8 in [Ten21] wiederholen und um neue Begriffe erweitern, mit denen wir die Theorie dynamischer Systeme mathematisch untersuchen können.

1.2.1. Gewöhnliche Differentialgleichungen

Wir erinnern uns zunächst an die Definition eines gewöhnlichen Differentialgleichungssystems \(m\)-ter Ordnung als Grundlage für unsere weiteren Betrachtungen.

Definition 1.1 (Gewöhnliches Differentialgleichungssystem)

Seien \(n,m \in \N\). Wir betrachten im Folgenden eine offene Teilmenge \(U\subset (\R^n)^{m+1}\) und ein offenes Intervall \(I\subset\R\). Es sei außerdem \(F:I\times U\rightarrow\R^n\) eine stetige Funktion, dann nennen wir

(1.1)\[F(t,x(t),x'(t),\ldots,x^{(m)}(t)) = 0\]

ein gewöhnliches Differentialgleichungssystem (DGL) \(m\)-ter Ordnung von \(n\) Gleichungen. Gilt \(n=1\), das heißt die Funktion \(F\) ist skalarwertig, so sprechen wir von einer gewöhnlichen Differentialgleichung.

Eine Funktion \(\phi\in C^m(I;\R^n)\) heißt Lösung des Differentialgleichungssystems, falls gilt,

\[F(t, \phi(t), \phi'(t), \ldots, \phi^{(m)}(t)) = 0 \quad \forall t\in I.\]

Wenn wir die DGL nach der höchsten auftauchenden Ableitung auflösen können, so dass sie die folgende Form hat

\[x^{(m)}(t) = F(t,x(t),x'(t),\ldots,x^{(m-1)}(t)),\]

so nennen wir die DGL explizit, ansonsten wird sie implizit genannt.

Folgende Bemerkung beschreibt eine alternative Notation von gewöhnlichen Differentialgleichungen 1. und 2. Ordnung, die häufig in der Literatur im Kontext dynamischer Systeme auftaucht.

Remark 1.1 (Zeitableitungen bei gewöhnlichen Differentialgleichungen)

Viele physikalische Phänomene können durch zeitabhängige gewöhnliche Differentialgleichungen 1. und 2. Ordnung beschrieben werden. In diesen Fällen verwendet man häufig die Variable \(t \in \R^+_0\) als unabhängige Variable anstatt einer Variable \(x \in \R\). Auch ändert sich häufig die Notation der Zeitableitungen der gesuchten Funktion \(x\), so dass folgende Korrespondenz für die ersten beiden Ableitungen entsteht:

  1. \(x'(t) \ \ \hat{=} \ \ \dot{x}(t)\),

  2. \(x''(t) \ \ \hat{=} \ \ \ddot{x}(t)\).

Damit lässt sich das gewöhnliche Differentialgleichungssystem aus (1.1) schreiben als

(1.2)\[F(t, x(t), \dot{x}(t), \ldots, x{(m)}(t)) = 0 \quad \forall t\in I.\]

1.2.2. Autonome Differentialgleichungen

Im Fall von dynamischen Systemen erhält der Definitionsbereich der Funktion \(F\) einer gewöhnlichen Differentialgleichung einen besonderen Namen, wie die folgende Bemerkung erklärt.

Remark 1.2 ((Erweiterter) Phasenraum)

Wird eine gewöhnliche Differentialgleichung als mathematisches Modell für ein kontinuierliches dynamisches System genutzt, so wird die offene Menge \(U\subset (\R^n)^{m+1}\) auch als Phasenraum bezeichnet. Der Definitionsbereich \(I\times U\) der stetigen Funktion \(F\) wird auch als erweiterter Phasenraum bezeichnet.

Der Phasenraum beschreibt die Menge aller möglichen Zustände des dynamischen Systems. Jeder Punkt des Phasenraums wird hierbei eindeutig einem Zustand des Systems zugeordnet.

In Kapitel Phasenflüsse und Phasenportraits werden wir spezielle Diagramme basierend auf dem Begriff des erweiterten Phasenraum betrachten (auch Phasenportraits genannt), um Lösungen von dynamischen Systemen mathematisch zu charakterisieren.

Im Fall von kontinuierlichen dynamischen Systemen spielt eine Familie von gewöhnlichen Differentialgleichungen eine wichtige Rolle, die wir im Folgenden definieren wollen. Diese zeichnen sich dadurch aus, dass die Funktion \(F\) in (1.2) nicht explizit von der Zeit abhängt.

Definition 1.2 (Autonome DGL)

Hängt die Funktion \(F\) in Definition 1.1 nicht explizit von der Zeit ab, d.h., wir haben \(F:U\rightarrow\R^n\) dann heißt die Gleichung

(1.3)\[F(x(t), x'(t), \ldots, x^{(m)}(t)) = 0 \quad \forall t\in I\]

autonome DGL.

Im folgenden Beispiel wollen wir unterschiedliche gewöhnliche Differentialgleichungen darauf prüfen, ob sie autonom sind.

Example 1.3 (Autonome Differentialgleichungen)

Wir betrachten drei verschiedene gewöhnliche Differentialgleichungen und untersuchen diese auf ihre Zeitabhängigkeit. Der Einfachheit-halber konzentrieren wir uns hierbei auf gewöhnliche Differentialgleichungen 1. Ordnung. Sei hierzu im Folgenden \(I \subset \R\) ein offenes Intervall.

1. Die gewöhnliche Differentialgleichung

\[2x'(t) = x(t)\cdot t \quad \forall t \in I\]

ist nicht autonom, da die rechte Seite der Gleichung durch die Funktion

\[F(t,x(t)) = x(t) \cdot x\]

beschrieben wird und diese Funktion explizit vom Funktionsargument \(t \in I\) abhängt.


2. Die gewöhnliche Differentialgleichung

\[2t\cdot \dot{x}(t) = x(t)\cdot t \quad \forall t \in I\]

ist hingegen autonom, da die Gleichung in folgende explizite Form überführt werden kann

\[\dot{x}(t) = \frac{1}{2} x(t) \quad \forall t \in I\]

und somit die rechte Seite der Gleichung durch die Funktion

\[F(t,x(t)) = \frac{1}{2}x(t)\]

beschrieben wird, welche nicht explizit vom Funktionsargument \(t \in I\) abhängt.


3. Im Fall der gewöhnlichen Differentialgleichung

\[2x'(t) = x(t)\cdot \sin(g(t)) \quad \forall t \in I\]

können wir für beliebige Funktionen \(g \colon I \rightarrow \R\) nicht entscheiden, ob sie autonom ist wenn keine konkrete Form der Funktion \(g\) gegeben ist.

1.2.3. Anfangswertprobleme

Um gewöhnliche Differentialgleichungen zu lösen, betrachtet man in der Regel sogenannte Anfangswertprobleme. Hierbei wählt man einen ausgezeichneten Zeitpunkt \(t_0\in I\) aus dem Zeitintervall \(I\), an welchem man die Lösung explizit durch einen Anfangswert \(x_0\in U\) vorgibt. Dieses Vorgehen wird in der folgenden Definition nochmal kurz wiederholt.

Definition 1.3

Sei ein gewöhnliches Differentialgleichungssystem 1. Ordnung wie in Definition 1.1 gegeben, wobei \(I \times U \subset \R_0^+ \times \R^n\) den erweiterten Phasenraum des Systems bezeichnet. Sei außerdem \(t_0 \in I\) ein Anfangszeitpunkt und \(x_0 \in U\) der zugehörige Anfangszustand.

Dann nennen wir das Gleichungssystem

(1.4)\[\begin{split}\dot{x}(t) &= F(t, x(t))\quad\forall t\in I, \\ x(t_0) &= x_0\end{split}\]

Anfangswertproblem des gewöhnlichen Differentialgleichungssystems. Sofern nicht explizit angegeben werden wir im Folgenden annehmen, dass ohne Beschränkung der Allgemeinheit \(t_0=0\) gilt.

Die explizite Wahl des Anfangszeitpunkts und -zustands erlaubt es erst eine gewöhnliche Differentialgleichung eindeutig zu lösen. Ohne diese zusätzlichen Informationen könnte man lediglich Funktionenscharen als Lösungsmenge angeben. Dies wird durch das folgende Beispiel nochmal dargestellt.

Example 1.4

Wir betrachten eine sehr einfache gewöhnliche Differentialgleichung erster Ordnung, die sich explizit in folgender Form schreiben lässt:

\[x'(t) = x(t) \quad \forall t \in \R.\]

Man sieht leicht ein, dass Lösungen dieser Differentialgleichung Funktionen \(x \colon \R \rightarrow \R\) von der Form

\[x(t) = c\cdot e^t\]

für eine beliebige Konstante \(c \in \R\) sein müssen. Um diese Funktionenschar weiter einzuschränken und eine eindeutige Lösung zu erhalten, müssen wir noch Anfangswertbedindungen hinzunehmen. Hierzu reicht es eine ausgewiesene Stelle \(t_0 \in \R\) und einen Funktionswert \(x_0 = x(t_0)\) festzulegen.

Wählen wir beispielsweise \(t_0 = 0\) und \(x_0 = x(0) = 2\), so erhalten wir als eindeutige Lösung der gewöhnlichen Differentialgleichung die Funktion

\[x(t) = 2\cdot e^t.\]

Wir sehen also, dass durch das Festlegen eines Anfangswert die unbekannte Konstante \(c \in \R\) als \(c=2\) eindeutig bestimmt wurde.

1.2.4. Existenz und Eindeutigkeit einer Lösung

Nicht jede gewöhnliche Differentialgleichung ist im Allgemeinen lösbar oder besitzt eindeutige Lösungen, wie das folgende Beispiel belegt.

Example 1.5

Wir wollen im folgenden zwei Beispiele von autonomen, gewöhnlichen Differentialgleichungen erster Ordnung diskutieren, für die entweder die Existenz oder die Eindeutigkeit von Lösungen nicht gegeben ist.

1. Die gewöhnliche Differentialgleichung

\[e^{x'(t)} \equiv 0 \quad \forall t \in \R\]

besitzt keine Lösung, da die Exponentialfunktion strikt positiv ist und es somit keine Funktion \(y \colon \R \rightarrow \R\) gibt, so dass die obige Gleichung erfüllt werden kann.

2. Die gewöhnliche Differentialgleichung

\[x'(t)(1-x'(t)) \equiv 0 \quad \forall t \in \R\]

besitzt auf Grund ihrer Symmetrieeigenschaften zwei unterschiedliche Funktionenscharen als Lösung, nämlich

\[x_1(t) = c \quad \text{ und } \quad x_2(t) = t + c \quad \forall t \in \R,\]

wobei \(c \in \R\) eine beliebige Konstante darstellt.

Die wichtigste Eigenschaft für die Existenz und Eindeutigkeit von Lösungen gewöhnlicher Differentialgleichungen ist die (lokale) Lipschitzstetigkeit der rechten Seite \(F \colon I \times U \rightarrow U\). Diese wollen wir der Vollständigkeit halber im Folgenden definieren.

Definition 1.4 ((Lokale) Lipschitzstetigkeit)

Sei \(F \colon G \to \R^n\) eine Funktion mit dem erweiterten Phasenraum \(G \, \coloneqq \, I \times U \subset \R\times\R^n\). Man sagt, dass \(F\) in \(G\) einer globalen Lipschitz-Bedingung genügt (bezüglich der Variablen \(x \in U\)) mit der Lipschitz-Konstanten \(L\geq0\), wenn gilt

\[\Vert F(t,x) - F(t,\widetilde{x}) \Vert \leq L \Vert x-\widetilde{x}\Vert\quad\text{ für alle }(t,x), (t,\widetilde{x})\in G\,.\]

Man sagt, \(F\) genüge in \(G\) einer lokalen Lipschitz-Bedingung, falls jeder Punkt \((t,x)\in G\) im erweiterten Phasenraum eine Umgebung \(V\) besitzt, sodass \(F\) in \(G\cap V\) einer Lipschitzbedingung mit einer gewissen (von \(V\) abhängigen) Konstanten \(L\in\R_0^+\) genügt.

Für die (lokale) Existenz von Lösungen haben wir in Kapitel 8.4 [Ten21] den Satz von Picard-Lindelöf formuliert, den wir im Folgenden wiederholen werden.

Theorem 1.1 (Lokaler Existenzsatz nach Picard–Lindelöf)

Sei \(F\colon G\to\R^n\) eine stetige Funktion mit erweitertem Phasenraum \(G \coloneqq I \times U \subset \R\times\R^n\), die lokal Lipschitz-stetig auf \(G\) bezüglich der \(x\)-Variablen ist. Dann existiert zu jedem Anfangswert \((t_0,x_0) \in G\) ein \(\varepsilon>0\), sowie genau eine Lösung

\[\phi \colon \left[t_0-\varepsilon, t_0+\varepsilon\right] \to \R^n\]

der gewöhnlichen Differentialgleichung

\[\dot{x}(t) \ = \ F(t,x(t))\]

unter der Anfangsbedingung \(\phi(t_0)=x_0\).

Proof. Siehe Kapitel 12, Satz 4 Kapitel 8.4 [For17]

Bisher haben wir nur die Existenz und Eindeutigkeit von Lösungen gewöhnlicher Differentialgleichungen in lokalen Intervallen betrachtet. Unter den strengeren Voraussetzungen einer rechten Seite \(F\) der gewöhnlichen Differentialgleichung, die einer globalen Lipschitzbedingung genügt, lässt sich jedoch eine globale Existenzaussage formulieren, die besonders für konkrete Anwendungen sehr praktisch ist.

Theorem 1.2 (Globaler Existenzsatz nach Picard-Lindelöf)

Sei \(F\colon G\to\R^n\) eine stetige Funktion mit erweitertem Phasenraum \(G \, \coloneqq \, I \times U \subset \R\times\R^n\), die eine globale Lipschitzbedingung auf \(G\) bezüglich der \(x\)-Variablen erfüllt. Dann existiert zu jedem Anfangswert \((t_0,x_0) \in G\) eine globale Lösung

\[\phi \colon I \to \R^n\]

der gewöhnlichen Differentialgleichung

\[\dot{x}(t) \ = \ F(t,x(t))\]

unter der Anfangsbedingung \(\phi(t_0)=x_0\). Es existieren außerdem keine weiteren (lokalen) Lösungen.

Proof. Siehe Kapitel 2.3 [Kna13]

Corollary 1.1

Das Anfangswertproblem jedes linearen gewöhnlichen Differentialgleichungssystems 1. Ordnung hat eine eindeutige globale Lösung.

Proof. Siehe Theorem 2.25, Kapitel 2.3 [Kna13]

1.2.5. Lösungen von linearen Differentialgleichungssystemen

Analog zu Kapitel 8 in [Ten21] wollen wir uns mit Lösungen für homogene lineare Differentialgleichungen beschäftigen, jedoch dieses Mal nicht im skalaren Fall \(n=1\), sondern für ein Anfangswertproblem von der Form

(1.5)\[\begin{split}\dot{x}(t) &= A x(t), \quad \forall t \in I \subset \R^+_0, \\ x(t_0) &= x_0 \in U \subset \R^n.\end{split}\]

Wir bemerken hierbei, dass im Gegensatz zum skalaren Fall hier die Koeffizientenmatrix \(A \in \C^{n\times n}\) nicht von der Zeit abhängt, wir also ein autonomes Differentialgleichungssystem betrachten.

Bevor wir Lösungen von (1.5) angeben, wollen wir ein hilfreiches Funktionalkalkül einführen, dass die Notation im Fall von Differentialgleichungssystemen erleichtert.

Definition 1.5 (Matrixexponential)

Sei \(n \in \N\) und \(A \in \C^{n \times n}\) eine beliebige quadratische Matrix. Das Matrixexponential \(e^A\) von \(A\), ist diejenige \(n\times n\)-Matrix, welche durch die folgende Potenzreihe definiert ist:

\[e^A \equiv \exp(A) \ \coloneqq \ \sum_{k=0}^\infty \frac{A^k}{k!} = I_n + A + \frac{A^2}{2} + \frac{A^3}{6} + \ldots.\]

Analog zur gewöhnlichen Exponentialfunktion konvergiert die Reihe für alle \(A \in \C^{n \times n}\), woraus die Wohldefiniertheit der Definition folgt. Für den Spezialfall \(n=1\) entspricht das Matrixexponential der gewöhnlichen Exponentialfunktion.

Remark 1.3 (Rechenregeln für das Matrixexponential)

Für das Matrixexponential gelten die gleichen Rechenregeln wie für die gewöhnliche Exponentialfunktion, wie zum Beispiel:

  • \(e^{tA}e^{sA} = e^{(t+s)A}, \quad\) für \(s,t \in \R\)

  • \(\frac{d}{dt} e^{tA} = Ae^{tA}, \quad\) für \(t \in \R\)

  • \( e^{D} = \operatorname{diag}(e^{a_1}, \ldots, e^{a_n})\) ist Diagonalmatrix für eine Diagonalmatrix \(D = \operatorname{diag}(a_1, \ldots, a_n)\).

Folgendes Lemma stellt einen interessanten Zusammenhang des Matrixexponentials zur Spektraltheorie her.

Lemma 1.1 (Eigenwerte des Matrixexponentials)

Sei \(A \in \C^{n\times n}\) eine beliebige quadratische Matrix und sei \(\lambda \in \C\) ein Eigenwert von \(A\) zum Eigenvektor \(v \in \C^n\). Dann ist der Vektor \(v\) auch Eigenvektor des Matrixexponentials \(e^A\) zum zugehörigen Eigenwert \(e^\lambda\).

Proof. In der Hausaufgabe zu zeigen.

Mit Hilfe des Matrixexponentials lässt sich die Lösung des homogenen linearen Differentialgleichungssystems (1.5) kompakt angeben, wie uns folgendes Lemma zeigt.

Lemma 1.2

Sei \(n\in \N\), \(I \subset \R^+_0\) und \(A \in \C^{n\times n}\) eine beliebige quadratische Matrix. Das Anfangswertproblem (1.5) hat die eindeutige Lösung

\[x(t) = e^{A(t-t_0)}x_0, \quad \forall t \in I.\]

Proof. Wir zeigen zunächst, dass die Lösung \(x(t)\) die Anfangswertbedingung erfüllt:

\[x(t_0) = e^{A(t_0-t_0)}x_0 = e^0x_0 = I_n x_0.\]

Um zu zeigen, dass \(x(t)\) das lineare homogene Differentialgleichungssystem (1.5) löst, berechnen wir die entsprechende Zeitableitung als

\[\dot{x}(t) = \frac{d}{dt}(e^{A(t-t_0)}x_0) = A \cdot e^{A(t-t_0)}x_0 = A x(t), \quad \forall t \in I.\]

Vergleichen wir die linke und rechte Seite dieser Gleichung so erkennen wir, dass \(x(t)\) in der Tat eine Lösung des Differentialgleichungssystems ist.

Nach Corollary 1.1 ist die Lösung eindeutig, da es sich um ein lineares Differentialgleichungssystem 1. Ordnung handelt.

Im Allgemeinen kann man bei linearen Differentialgleichungssystemen nicht davon ausgehen, dass diese in der einfachsten Form wie in (1.5) vorliegen. Außerdem ist die konkrete Berechnung des Matrixexponentials zur Bestimmung einer Lösungsfunktion \(x(t)\) in der Regel ungeeignet. Hierzu wollen wir die abschließende Bemerkung machen.

Remark 1.4

1. Zur Berechnung einer konkreten Lösung \(x(t)\) des linearen homogenen Differentialgleichungssystems (1.5) bietet es sich an, die Jordansche Normalform \(J = SAS^{-1}\) von \(A\) aus Kapitel 2.7 in [Ten21] auszunutzen, da für diese das Matrixexponential wie folgt berechnet werden kann:

\[\begin{split}e^{tA} &= \sum_{k=0}^\infty \frac{(t A)^k}{k!} = \sum_{k=0}^\infty \frac{(tS^{-1}JS)^k}{k!} \\&= S^{-1} \sum_{k=0}^\infty \frac{(tJ)^k}{k!} S = S^{-1} e^{tJ}S \\&= S^{-1} e^{t(D+N)}S = S^{-1} e^{tD} e^{tN} S\end{split}\]

für eine Transformationsmatrix \(S \in \C^{n \times n}\), eine Diagonalmatrix \(D \in \C^{n \times n}\) mit den Eigenwerten von \(A\) und einer nilpotenten Matrix \(N \in \C^{n \times n}\), für die die Reihendarstellung des zugehörigen Matrixexponentials nach endlich vielen Summanden (entsprechend dem Nilpotenzindex von \(N\)) abbricht.

2. Ist das vorliegende lineare Differentialgleichungssystem inhomogen, das heißt für eine stetige Störfunktion \(b \colon I \rightarrow \R^n\) von der Form

(1.6)\[\begin{split}\dot{x}(t) &= A x(t) + b(t), \quad \forall t \in I \subset \R^+_0, \\ x(t_0) &= x_0 \in U \subset \R^n,\end{split}\]

so lässt sich über die Variation der Konstanten aus Kapitel 8.2 in [Ten21] eine eindeutige Lösung des Anfangswertproblems (1.6) angeben als

\[x(t) = e^{tA}x_0 + \int_0^t e^{(t-s)A}b(s) \, \mathrm{d}s.\]

3. Im Falle eines homogenen, linearen Differentialgleichungssystems, das nicht autonom ist, das heißt die Koeffizientenmatrix \(A = A(t)\) ist zeitabhängig, können wir nicht mehr die Spektraltheorie zur konkreten Berechnung von Lösungen nutzen. Formal lassen sich dennoch Lösungen als sogenanntes zeitgeordnetes Produkt angeben, was jedoch den Rahmen dieser Vorlesung sprengen würde.