Laurententwicklung und Residuensatz
Inhalt
7.6. Laurententwicklung und Residuensatz¶
In diesem Abschnitt betrachten wir nun Singularitäten holomorpher Funktionen auf gelochten Kreisscheiben. Konkret betrachten wir holomorphe Funktionen \(f:B_r(p)\setminus\{p\}\to\C\) und interessieren uns speziell für das Verhalten nahes des entfernten Mittelpunktes \(p\in\C\).
7.6.1. Singularitäten holomorpher Funktionen¶
In diesem Abschnitt beschäftigen wir uns mit speziell ausgezeichneten Punkten, den sogenannten Singularitäten.
(Singularitäten)
Sei \(U \subset \C\) offen und \(p\in U\) ein Punkt und \(f: U \setminus \{p\}\to\C\) eine holomorphe Funktion ist, dann nennen wir den Punkt \(p\) eine isolierte Singularität von \(f\).
Der Punkt \(p\in U\) heißt hebbare Singularität, falls \(p\) eine isolierte Singularität ist und es eine holomorphe Funktion \(g:U\to\C\) gibt, so dass \(g(z) = f(z)\) gilt für alle \(z \in U \setminus \{p\}\).
Der Punkt \(p\in U\) heißt Pol, wenn ein \(k\in\N\) existiert, s.d., \(z\mapsto (z-p)^k f(z)\) eine hebbare Singularität in \(p\) hat. Das kleinste \(k\in\N\), das diese erfüllt heißt Ordnung des Pols.
Wir nennen den Punkt \(p\) eine wesentliche Singularität, wenn \(p\) weder hebbar noch Pol ist.
Intuitiv ist eine Polstelle hebbar, falls die Funktion um die Polstelle herum beschränkt ist. Dies ist die Aussage des Riemannschen Hebbarkeitssatzes.
Es sei \(U\subset \C\) offen, \(p\in U\) und \(f:U\setminus\{p\}\to\C\) holomorph. Falls eine Umgebung \(V\subset U, p\in V\) existiert, s.d., \(f\) auf \(V\setminus\{p\}\) beschränkt ist, so ist \(p\) eine hebbare Singularität.
Proof. Wir nehmen o.B.d.A. an, dass \(p=0\) gilt und betrachten die Funktion
Dann gilt
da \(f\) beschränkt in einer Umgebung um \(0\) ist. Somit ist \(g\) holomorph auf \(U\) und lässt sich damit als Potenzreihe in der \(0\) entwickeln,
Insbesondere gilt dann für \(z\in U\setminus\{0\}\)
wobei die Reihe auf der rechten Seite eine holomorphe Funktion auf ganz \(U\) definiert, daher ist \(0\) eine hebbare Singularität.
7.6.2. Laurent-Reihen¶
Zusätzlich zu Potenzreihen betrachtet man für Singularitäten sogenannte Laurent-Reihen, wobei man nicht nur Potenzen \((z-p)^j\) für \(j\in \N\) betrachtet, sondern auch negative Exponenten zulässt und somit effektive rationale Funktionen \(\frac{1}{(z-p)^j}\) hinzuaddiert.
(Laurent-Reihen)
Für eine Folge \(a_j\in\C, j\in \Z\) nennen wir die Reihe
Laurent-Reihe am Entwicklungspunkt \(p\in\C\). Wir nennen die Reihe konvergent, falls die Teilsummen
konvergieren und setzten den Grenzwert als Summe der beiden einzelnen Grenzwerte.
Für Laurent-Reihen erhält man zwei Konvergenzradien, jeweils für die beiden Teilsummen.
(Laurent Konvergenzradien)
Für eine Laurent-Reihe sei \(R>0\) der Konvergenzradius der Reihe
und \(\tilde{r}\) der Konvergenzradius der Reihe
Dann heißt \(R\) äußerer und \(\frac{1}{\tilde{r}}\) innerer Konvergenzradius.
Anstatt von Kreisscheiben betrachten wir hier nun offene Ringe
und erhalten folgende Aussage.
Es sei \(\sum_{j=-\infty}^\infty a_j (z-p)^j\) eine Laurent-Reihe mit äußerem Konvergenzradius \(R\) und innerem Konvergenzradius \(r\), dann gilt
Die Reihe divergiert auf $\C\setminus\overline{B_{r,R}(p)},
Die Reihe konvergiert auf \(B_{r,R}(p)\),
für \(r<\tilde{r}<\tilde{R}< R\) konvergiert die Reihe gleichmäßig absolut auf \(B_{\tilde{r},\tilde{R}}(p)\)
Proof. Folgt direkt aus Lemma 7.12
Analog zur Entwicklung in die Taylorreihe haben wir auf offenen Ringen eine Entwicklung in Laurent-Reihen.
(Laurent-Entwicklung)
Es sei \(f:B_{r,R}(p)\to\C\) holomorph, dann gilt
wobei die Koeffizienten für \(j\in\Z\) gegeben sind durch
Proof. ToDo, siehe [Nee17] Satz 6.7.
Mithilfe der Laurent-Entwicklung auf der gelochten Kreisscheibe \(B_{0,R}(p)\) können wir nun Singularitäten von holomorphen Funktionen charakterisieren.
Es sei \(f:U\setminus\{p\}\to\C\) holomorph, \(B_{0,R}(p)\subset U\setminus\{p\}\) und \(a_j\in\C, j\in\Z\) seien die Koeffizienten der Laurent-Entwicklung auf \(B_{0,R}\) welche nach Lemma 7.14 existieren. Dann gilt:
Die Singularität \(p\) ist genau dann hebbar, wenn \(a_{j}=0\) für alle \(j<0\).
Die Singularität \(p\) ist genau dann ein Pol der Ordnung \(k\in\N\), \(a_{-k}\neq 0\) und \(a_j = 0\) für alle \(j<k\).
Die Singularität \(p\) ist genau dann wesentlich, falls \(a_{-j}\neq 0\) für fast alle \(j\in\N\).
Proof. Ad 1.
Gilt \(a_j=0\) für alle \(j<0\) so ist die Laurent-Reihe
holomorph von \(B_{0,R}(p)\) auf \(B_R(p)\) fortsetzbar und die Singularität somit hebbar.
Ad 2.
Ist \(f(z) = \sum_{j \geq -k} a_j (z-p)^j\) mit \(a_k \neq 0\), so ist
auf der Kreisscheibe \(K_R(0)\) eine holomorphe Funktion und der Index \(k\) ist minimal mit dieser Eigenschaft, denn für \(m < k\) ist
wobei \(F(p) = a_k \neq 0\) ist und \(|z-p|^{m-k} \rightarrow \infty\) für \(z \rightarrow p\) gilt. Also besitzt \(f\) in \(p\) einen Pol der Ordnung \(k\).
Ad 3.
In diesem Fall erhalten wir für kein \(k \in \N\) eine hebbare Singularität von
so dass die Singularität von \(f\) in \(p\) wesentlich ist.
7.6.3. Der Satz von Casorati–Weierstra߶
Für wesentliche Singularitäten \(p\) können wir weder einen Wert der Funktion am Punkt \(p\) definieren, noch feststellen, dass die Funktion hier eindeutig gegen unendlich strebt. Tatsächlich nimmt eine Funktion um eine wesentliche Singularität herum überraschend viele verschiedene Werte an. Diese ist die Aussage des Satzes von Casorati–Weierstraß.
(Casorati–Weierstraß)
Es sei \(U \subset \C\) offen und \(p\in U\) eine wesentliche Singularität der holomorphen Funktion \(f:U\setminus\{p\}\to\C\), dann gilt, dass \(f(U\setminus\{p\})\) dicht in \(\C\) liegt.
Proof. Angenommen \(f(U\setminus\{p\})\) wäre nicht dicht, dann existiert ein \(w\in\C\) und ein \(r>0\), s.d.
Da das Bild von \(f\) somit einen echten Abstand zum Punkt \(p\) hat ist die Funktion
beschränkt und holomorph auf \(U\setminus\{p\}\). Somit folgt mit dem Hebbarkeitssatz in Theorem 7.9, dass diese Funktion einen hebbaren Pol bei \(p\) hat und somit zur holomorphen Funktion \(h:U\to\C\) fortsetzbar auf \(U\) ist. Diese Funktion hat keine Nullstellen auf \(U\setminus\{p\}\) und ist daher von der From
wobei \(k\in\N_0, j:U\to\C\) holomorph mit \(j(p)\neq 0\). Dann hat aber
eine hebbare Singularität bzw. einen Pol bei \(p\) was ein Widerspruch zur Annahme ist.
eine hebbare Singularität bei \(z=p\).
7.6.4. Umlaufzahlen¶
Eine charakteristische Größe von Integrationswegen ist die sogenannte Umlaufzahl, welche beschreibt wie oft ein Weg um einen Punkt \(w\in\C\) herum läuft.
(Umlaufzahl)
Sei \(\gamma:[a,b]\to\C\) ein Integrationsweg und \(w \in \C \setminus \Im(\gamma)\) ein Punkt. Dann bezeichnet
die Umlaufzahl (manchmal auch Index) von \(\gamma\) um \(w\).
Anschaulich möchten wir für geschlossene Wege \(\gamma\) zählen, wie oft \(\gamma\) um einen Punkt \(w\) herumläuft. A priori ist allerdings nicht klar, dass die Umlaufzahl tatsächlich ganzzahlig ist. Dafür erhalten wir zunächst das folgende Resultat.
(Ganzzahligkeit der Umlaufzahl)
Für \(r>0\), \(w\in\C \setminus \Im(\gamma)\) ein Punkt, und \(k\in\Z\) eine ganze Zahl. Sei außerdem ein Weg \(\gamma_{r,k}:[0,2\pi]\to\C\) gegeben durch
Dann gilt
Proof. Wir berechnen explizit
was die Behauptung zeigt.
ToDo: Abbildung mit Beispiel von Wikipedia
Wir wissen bereits aus dem Homotopiesatz in {prf:ref}``, dass homotope Wege die gleiche Umlaufzahl liefern. Bisher wissen wir jedoch nicht, dass alle Wege zu einem Weg der Gestalt \(\gamma_{r,k}\) homotop sind. Der folgende Satz liefert uns diese Aussage.
Sei \(\gamma \colon [a,b] \rightarrow \C \setminus \{w\}\) ein geschlossenen Integrationsweg und \(w \in \C\) ein Punkt. Dann gilt \(\Um_\gamma(w) \in \Z\). Sind außerdem \(\gamma_0, \gamma_1 \colon [a,b] \rightarrow \C \setminus \{w\}\) zwei geschlossene Integrationswege und \(\gamma_0(a) = \gamma_1(a)\), so sind die beiden Integrationswege genau dann homotop, wenn ihre Umlaufzahlen übereinstimmen, d.h.,
Proof. Sei also \(\gamma \colon [a,b] \rightarrow \C \setminus \{w\}\) ein geschlossener Integrationsweg und sei \(\gamma(a) = z_0 \in \C\). Für die Funktion
gilt dann nach dem Hauptsatz der Integral- und Differentialrechnung \(\eta'(t) = \frac{\gamma'(t)}{\gamma(t)-w}\) für jedes \(t\) in dem \(\gamma\) differenzierbar ist. Damit erhalten wir
Da offensichtlich \(\eta(a) = 0\) gilt erhalten wir
so dass gilt
Für \(t = b\) erhalten wir insbesondere aus \(\gamma(a) = \gamma(b) = z_0\) die Beziehung \(\exp^{\gamma(b)} = 1\). Andererseits gilt aber \(\eta(b) = 2\pi i \Um_\gamma(w)\) und somit folgt schon \(\Um_\gamma(w) \in \Z\).
Seien also nun \(\gamma_0, \gamma_1 \colon [a,b] \rightarrow \C \setminus \{w\}\) geschlossene Integrationswege mit dem gleichen Anfangspunkt \(z_0 \in C\). Wir definieren zwei Funktionen \(\eta_0, \eta_1 : [a,b] \rightarrow \C\) analog wie oben. Diese Funktionen sind stückweise stetig differenzierbare Kurven mit
Sei nun
eine Homotopie von \(\eta_0\) nach \(\eta_1\) mit festen Endpunkten. Also ist
eine Homotopie von \(\gamma_0\) nach \(\gamma_1\) mit festen Endpunkten.
Aus der Einsicht, dass jede Umlaufzahl ganzzahlig ist, stellt sich die Frage, wie diese Umlaufzahl von der Wahl des Punktes abhängt. Dies beantwortet uns das folgene Korollar.
Sei \(\gamma \colon [a,b] \rightarrow \C\) ein geschlossener Weg. Dann ist die Menge \(U := \C \setminus \Im(\gamma)\) offen und \(\Um_\gamma \colon U \rightarrow \Z\) ist eine Funktion, die konstant auf jeder Zusammenhangskomponente von \(U\) ist.
Außerdem existiert ein Radius \(R > 0\), so dass für die Kreisscheibe \(K_{>R}(0)\) gilt
und es gilt \(\Um_\gamma(w) = 0\) für alle \(w \in \K_{>R}(0)\).
Proof. Aus der Formel
und aus der Stetigkeit des Integranden als Funktion von \((t,w)\) in der Menge \([a,b] \times U\) folgt die Stetigkeit der Funktion \(\Um_\gamma\). Da die Funktion \(\Um_\gamma\) Werte in \(\Z\) annimmt, muss sie auf jeder Zusammenhangskomponente von \(U\) konstant sein. Andererseits gilt für die Länge \(L(\gamma) = \int_a^b |\gamma'(t)| \mathrm{d}t\) die Abschätzung
Hieraus folgt schon \(\lim_{w \rightarrow \infty} \Um_\gamma(w) = 0\), also ist \(\Um_\gamma(w) = 0\) für alle Punkte \(w \in \C\) mit \(|w| > R\).
7.6.5. Cauchyscher Residuensatz¶
In diesem letzten Abschnitt zur Funktionentheorie widmen wir uns einem der zentralen Aussagen der Funktionentheorie, den Cauchyschen Residuensatz.
Er erlaubt es die Berechnung von Kurvenintegralen auf eine wesentlich einfachere Berechnung von Umlaufzahlen und sogenannten Residuen zu reduzieren, was für viele Anwendungen in der Physik sehr praktisch ist.
Wir beginnen zunächst mit der Einführung des Begriffs des Residuums einer Laurent-Entwicklung.
(Residuum)
Sei \(U \subset \C\) eine offene Menge, \(p \in U\) ein Punkt und \(f \colon U \setminus \{p\} \rightarrow \C\) eine holomorphe Funktion. Sei außerdem
die Laurent-Entwicklung von \(f\) bei der isolierten Singularität \(p\).
Dann nennen wir
das **Residuum\( von \)f\( bei \)p$.
Das folgende Lemma erlaubt die explizite Berechnung des Residuums.
(Berechnung des Residuums)
Sei \(U \subset \C\) eine offene Teilmenge und \(p \in U\) Pol einer holomorphen Funktion \(f \colon U \setminus \{p\} \rightarrow \C\).
Für genügend kleine \(\epsilon > 0\) lässt sich das Residuum von \(f\) bei \(p\) angeben als
Falls der Pol von Ordnung \(-m\) ist, lässt sich das Residuum von \(f\) bei \(p\) sogar angeben als
Proof. Folgt direkt mit der Darstellung der Laurent-Koeeffizienten in Lemma 7.14.
Der folgende Residuensatz von Cauchy stellt eine der zentralen Aussagen der Funktionentheorie dar. Er erlaubt es uns Kurvenintegrale mit Hilfe der Umlaufzahl und des Residuums zu berechnen, was sich als sehr nützlich herausstellt.
(Cauchyscher Residuensatz)
Sei \(U \subset \C\) offen und \(f:U\setminus P \to \C\) eine holomorphe Funktion mit endlicher Menge \(P \subset \C\) von Polstellen. Sei außerdem \(\gamma\) ein geschlossener und zusammenziehbarer Weg in \(U\) mit \(\Im(\gamma) \cap P = \emptyset\).
Dann gilt,
Proof. Sei \(p \in P\) und \(f(z) = \sum_{n=-\infty}^\infty a_n(z-p)^n\) die Laurent-Entwicklung von \(f\) um \(p\). Dann ist
eine auf \(\C \setminus \{p\}\) holomorphe Funktion mit Stammfunktion
Also verschwindet jedes Integral \(\int_\delta h_p(z)\) für jeden geschlossenen Weg \(\delta\) in \(\C \setminus \{p\}\). Die Funktion
hat nun in allen \(p \in P\) hebbare Singularitäten und ist somit holomorph auf \(U\). Nach dem Integralsatz von Cauchy in {prf:ref}`` gilt schließlich
Für holomorphe Funktionen \(f\) entspricht der Residuensatz gerade dem Cauchyschen Integralsatz. Wenn \(D\) als Sterngebiet angenommen wird ist die Zusammenziehbarkeit des Wegs \(\gamma\) immer erfüllt.