7.4. Existenz und Eindeutigkeit von Lösungen

Bisher haben wir uns vornehmlich um analytische Lösungsverfahren für lineare gewöhnliche Differentialgleichungen erster Ordnung beschäftigt. Dabei haben wir theoretische Überlegungen zur Existenz und Eindeutigkeit von Lösungen allgemeiner gewöhnlicher Differentialgleichungen vernachlässigt. Daher wollen wir uns in diesem Abschnitt den notwendigen und hinreichenden Bedingungen widmen, die uns sagen wann eine Differentialgleichung lösbar ist und wann ihre Lösung sogar eindeutig ist.

Da wir in Kapitel Differentialgleichungen höherer Ordnung gesehen haben, dass sich beliebige gewöhnliche Differentialgleichungen höherer Ordnung in ein Differentialgleichungssystem erster Ordnung transformieren lassen, beschränken wir uns auf diese Differentialgleichungssysteme. Dies motiviert die folgende Definition.

Definition 7.4 (Differentialgleichungssystem erster Ordnung)

Sei GR×Rn eine offene Teilmenge und

f:G  Rn,(x,y)  f(x,y)

eine vektorwertige stetige Funktion.

Dann nennt man die folgende Gleichung

y(x) = f(x,y(x))

ein System von n Differentialgleichungen erster Ordnung. Eine Lösung dieser Gleichung ist eine auf dem offenen Intervall IR total differenzierbare Funktion φ:IRn, für die die folgenden Eigenschaften gelten:

  • Der Graph Γφ von φ liegt in der Teilmenge G, d.h,

Γφ := {(x,y)I×Rn | y=φ(x)}G.
  • Die Funktion φ erfüllt die Gleichung

φ(x)=f(x,φ(x))für alle xI.

Remark 7.2

Im Gegensatz zu vorigen Abschnitten handelt es sich in Definition Definition 7.4 nicht um eine Differentialgleichung einer skalarwertigen Funktion sondern um ein Differentialgleichungssystem einer vektorwertigen Funktion. Wir können die vektorwertigen Funktionen y und f also komponentenweise notieren als

y(x) = (y1(x)yn(x))undf(x,y) = (f1(x,y)fn(x,y)),

was zu folgendem Differentialgleichungssystem erster Ordnung führt:

{y1(x)=f1(x,y1(x),,yn(x)),y2(x)=f2(x,y1(x),,yn(x)),yn(x)=fn(x,y1(x),,yn(x)).

Der folgende Satz charakterisiert die Lösung eines Differentialgleichungssystems mit Anfangswertbedingungen als Lösung einer zugehörigen Integralgleichung.

Theorem 7.4 (Integralgleichung)

Sei GR×Rn eine offene Teilmenge, IR ein offenes Intervall und sei f:GRn eine stetige Abbildung. Weiter seien die Anfangwerte (x0,c)G mit x0I gegeben. Sei nun φ:IRn eine total differenzierbare Funktion, deren Graph in G enthalten ist

Die Funktion φ ist genau dann eine Lösung der Differentialgleichung

y(x) = f(x,y(x))

unter der Anfangswertbedingung φ(x0)=c, wenn sie die folgende Integralgleichung erfüllt:

(7.8)φ(x) = c+xx0f(t,φ(t))dtfür alle  xI.

Proof. Wir zeigen zunächst die Rückrichtung des Satzes. Sei also die Integralgleichung (7.8) erfüllt. Für die Anfangswertbedingung setzen wir x=x0 und sehen somit, dass φ(x0)=c gilt. Da die Funktion f nach Voraussetzung stetig ist, folgt aus dem Hauptsatz der Integral- und Differentialrechnung Kapitel 7.2 [Bur20], dass

ddxxx0f(t,φ(t))dt = f(x,φ(x)).

Damit folgt aus der Definition der Funktion φ in (7.8), dass φ total differenzierbar ist und die gewöhnliche Differentialgleichung φ(x)=f(x,φ(x)) erfüllt.

Für die Hinrichtung des Beweises nehmen wir an, dass die Funktion φ eine Lösung der gewöhnlichen Differentialgleichung φ(x)=f(x,φ(x)) ist, total differenzierbar sei und die Anfangswertbedingung φ(x0)=c erfülle. Dann können wir das folgende Integral betrachten und erhalten aus dem Hauptsatz der Integral- und Differentialrechnung:

xx0f(t,φ(t))dt = xx0φ(t)dt = φ(x)φ(x0) = φ(x)c.

Durch Umstellen von c auf die linke Seite erhält man die Identität der Integralgleichung in (7.8).

Das folgende Lemma liefert uns ein hinreichendes Kriterium für die Lipschitz-Stetigkeit einer Funktion. Diese Eigenschaft wird für die Existenz und Eindeutigkeit von Lösungen gewöhnlicher Differentialgleichungen entscheidend sein.

Lemma 7.1

Sei GR×Rn eine offene Teilmenge und f:GRn eine bezüglich der Variablen y=(y1,,yn) stetig partiell differenzierbare Funktion.

Dann ist die Funktion f lokal Lipschitz-stetig in G bezüglich des y-Variable.

Proof. Sei (a,b)G ein beliebiger Punkt. Dann existiert ein r>0, so dass die kompakte Menge

Br(a,b) := {(x,y)R×Rn:|xa|r, ||yb||r}

ganz in G liegt. Da nach Voraussetzung alle Komponenten der Jacobi-Matrix J:=(fiyj)1i,jn stetige Funktionen sind, können wir eine Konstante LR+0 finden mit

L := sup(x,y)Br(a,b)J(x,y) < +.

Aus einer Folgerung des Mittelwertsatzes in Theorem 5.8 folgt für alle (x,y),(x,˜y)Br(a,b), dass gilt

||f(x,y)f(x,˜y)||  L||y˜y||.

Nun sind wir in der Lage die hinreichenden Bedingungen für die Eindeutigkeit von Lösungen gewöhnlicher Differentialgleichungen zu formulieren.

Theorem 7.5 (Eindeutigkeitssatz)

Sei GR×Rn eine offene Teilmenge und sei f:GRn eine stetige Funktion, die lokal Lipschitz-stetig in G bezüglich der y-Variablen ist. Seien nun φ,ϑ:IRn zwei Lösungen der Differentialgleichung

y(x)=f(x,y(x)) für alle xI.

Stimmen die beiden Lösungen der Differentialgleichung in einem Punkt x0I überein, d.h., es gilt φ(x0)=ϑ(x0), so folgt schon

φ(x)=ϑ(x) für alle xI.

Proof. Wir beginnen zunächst damit die Eindeutigkeit von Lösungen in einer lokalen ϵ-Umgebung zu zeigen. Sei x0I ein Punkt, so dass für die beiden Lösungen φ,ϑ:IRn der gewöhnlichen Differentialgleichung gilt φ(x0)=ϑ(x0). Auf Grund der Integraldarstellung in Satz Theorem 7.4 folgt nun

(7.9)φ(x)ϑ(x) = xx0f(t,φ(t))f(t,ϑ(t))dt.

Da f nach Voraussetzung lokal Lipschitz-stetig bezüglich der y-Variablen ist, existieren Konstanten L0 und δ>0, so dass für alle tIBδ(x0):={tI:|tx0|<δ} gilt:

(7.10)||f(t,φ(t))f(t,ϑ(t))||  L||φ(t)ϑ(t)||.

Wir definieren nun die zwei Variablen

ϵ:=min(δ,12L) und M:=sup{||φ(x)ϑ(x)||:xIBϵ(x0)}.

Aus Gleichung (7.9) und (7.10) können wir nun für alle xIBϵ(x0) folgern

||φ(x)ϑ(x)||  L|xx0||φ(t)ϑ(t)||dt|  L|xx0|M  M2.

Da diese Abschätzung auch für den Punkt xIBϵ(x0) gilt, für den das Supremum M angenommen wird, folgt also MM2. Dies ist jedoch nur möglich, wenn M=0 gilt, d.h., wenn die Funktionen φ und ϑ in IBϵ(x0) übereinstimmen.

Basierend auf obigem Resultat zeigen wir nun, dass φ(x)=ϑ(x) für alle xI mit xx0 gilt. Der Beweis für den Fall xx0 funktioniert analog und wird daher nicht näher diskutiert. Wir definieren zunächst den am weitest rechts liegenden Punkt ξI, so dass die Funktionen φ und ϑ noch übereinstimmen durch

x1 := sup{ξI:φ|[x0,ξ]ϑ|[x0,ξ]}.

Falls x1= oder gleich dem rechten Rand des Intervalls I gilt, so ist die Aussage bereits bewiesen. Nehmen wir also an, dass ein Punkt x1I existiert bis zu dem die Funktionen φ und ϑ übereinstimmen und darüber hinaus ein δ>0 existiert, so dass [x1,x1+δ]I gilt. Nach Voraussetzung wissen wir nun, dass φ(x1)=ϑ(x1) gilt und die Funktionen stetig sind. Nun wissen wir aus dem ersten Teil des Beweises, dass ein ϵ>0 existiert, so dass gilt

φ(x) = ϑ(x) für alle xIBϵ(x1).

Das widerspricht jedoch offensichtlich der Definition von x1I. Daher gilt also φ(x)=ϑ(x) für alle xI mit xx0.

Um zu verstehen, wann die Lösung einer gewöhnlichen Differentialgleichung nicht eindeutig ist, diskutieren wir im Folgenden ein Gegenbeispiel.

Example 7.9

Wir betrachten die folgende nichtlineare gewöhnliche Differentialgleichung

(7.11)y(x) = (y(x))23.

Wie man sofort einsieht ist eine spezielle Lösung der Differentialgleichung gegeben durch

φ0(x)  0, für alle xR.

Da die Differentialgleichung separierbar ist, lassen sich die Lösungen unter der Annahme y0 mit Hilfe von Satz Theorem 7.1 bestimmen.

Man sieht aber auch leicht, dass für beliebiges aR die Funktion ϑa:RR mit

ϑa(x) := 127(xa)3

die gewöhnliche Differentialgleichung (7.11) erfüllt, denn es gilt

ϑa(x) = 19(xa)2 = (127(xa)3)23 = ϑa(x)23.

Obwohl die Lösung φ und ϑ0 im Punkt x0=a übereinstimmen mit

φ0(a)=ϑa(a)=0,

sieht man ein, dass der der Eindeutigkeitssatz Theorem 7.5 nicht gilt. Der Grund hierfür ist eine Verletzung der Voraussetzungen des Satzes, denn die Funktion f(x,y):=y23 ist nicht für alle Punkte yR bezüglich der y-Variable Lipschitz-stetig. Zwar ist f für y0 stetig partiell differenzierbar bezüglich der Variablen y mit

fy(x,y) = 23y13.

Nach Lemma Lemma 7.1 ist f somit lokal Lipschitz-stetig in ganz R×R{0} in Bezug auf die y-Variable. Jedoch ist f in keiner Umgebung eines Punktes (a,0) Lipschitz-stetig bezüglich de y-Variablen, da dieser Punkt eine Singularität mit unendlicher Steigung darstellt.

Der folgende wichtige Satz formuliert die hinreichenden Bedingungen für die Existenz von Lösungen einer gewöhnlichen Differentialgleichung.

Theorem 7.6 (Existenzsatz von Picard-Lindelöf)

Sei GR×Rn eine offene Teilmenge und sei f:GRn eine stetige Funktion, die lokal Lipschitz-stetig auf G bezüglich der y-Variablen ist. Dann existiert zu jedem Anfangswert (x0,c)G ein ε>0, sowie eine Lösung

φ:[x0ε,x0+ε]Rn

der gewöhnlichen Differentialgleichung

y(x) = f(x,y(x))

unter der Anfangsbedingung φ(x0)=c.

Proof. Siehe §12, Satz 4 [For17].

Selbst wenn die Funktion f der Differentialgleichung y(x)=f(x,y(x)) auf ganz R×Rn definiert ist und überall lokal Lipschitz-stetig bezüglich der y-Variablen ist, so kann eine Lösung, die die Anfangsbedingung φ(x0)=c erfüllt unter Umständen nur in einer sehr kleinen Umgebung von x0R definiert sein. Dies wird durch das folgende Beispiel klar.

Example 7.10

Wir betrachten die folgende nichtlineare gewöhnliche Differentialgleichung erster Ordnung

y(x)=2x(y(x))2.

Die Funktion f(x,y)=2xy2 ist offensichtlich auf ganz R×R definiert und stetig partiell differenzierbar bezüglich der Variable y und somit nach Lemma Lemma 7.1 lokal Lipschitz-stetig bezüglich der y-Variablen.

Wir suchen eine Lösung ϕ:RR der Differentialgleichung, die die Anfangswertbedingung φ(0)=c erfüllt. Für den Fall c=0 ist dies offensichtlich die konstante Funktion φ(x)0 für alle xR. Für c0 können wir die Lösung durch Trennung der Variablen (siehe Kapitel Trennung der Variablen) wie folgt unter der Annahme y(x)0 berechnen:

y = dydx = 2xy21y2dy = 2xdx,yc1η2dη = x02ξdξ,1y+1c = x2,φ(x) := y = 1γx2, mit  γ:=1c.

Dies ist die Lösung der gewöhnlichen Differentialgleichung unter der Anfangswertbedingung φ(0)=c, was man direkt durch Einsetzen verifizieren kann.

Falls c>0 gilt, so ist der maximale Definitionsbereich dieser Lösung gegeben durch

Ic := {xR : |x|<γ=c12}.

Nähert sich x von innen dem Rand des Intervalls Ic, so strebt der Funktionswert der Lösung gegen +. Für c<0 ist die Lösung hingegen auf ganz R definiert.